Michel Decar, Umberto Eco und das Kloplakat

Drei Annäherungen an Cringe über die Postmoderne oder so was. Was die mit Cringe zu tun haben? Noch nicht so viel, aber ich schraube mich durch eine Liste an Videos und Texten langsam an die Sache heran.

1. Michel Decars Listen

Ich mag die Hörspiele von Michel Decar, viel mehr kenne ich von ihm aber auch gar nicht. Ich habe mal einen Roman von ihm gelesen1, aber da fehlten mir die Listen. Listen kann Michel Decar besonders gut und Listen mag ich offenbar, denn auch eins meiner Lieblingsgedichte von Clemens J. Setz ist eine Liste. Auch Warum ich kein großer Liebhaber bin2 funktioniert für mich so gut, weil in den Zwischenräumen der Auflistung auf engem Raum etwas angedeutet, aber nicht auserzählt wird, was sonst seitenweise Text gebraucht hätte, oder sich der Sprache vielleicht ganz verschlossen hätte. Stattdessen gibt es nur eine Liste aus Feststellungen unter einer Überschrift, die einen Zusammenhang behauptet. Bei Michel Decar ist so eine Überschrift Philipp Lahm3. Unter dieser Behauptung geht es um Deutschland und um Zugehörigkeit, Mittelmäßigkeit und Normalität und wenn Michel Decar in dem Hörspiel eine Zeit oder Schicht oder Generation durch eine Aneinanderreihung vieler kurzer Szenen beschreibt, dann ließe sich das sicherlich auch soziologisch oder psychologisch ausformulieren, aber eben nicht so miterleben. Das erkennende „Ja, so ist das“ wäre ein anderes. Ein Unterschied zum wissenschaftlichen Text ist, das ich hier gar nicht genau wissen muss, was „das“ eigentlich genau ist, um zu begreifen – dieses spezifische „das“ sich sogar der unmittelbaren Beschreibung entzieht und nur über mittelbare Umwege erreichen lässt.

Ich fühle mich beim Hören bei Stücken wie Philipp Lahm oder Rex Osterwald4 immer wieder ertappt, hadere damit, ob ich etwa auch zu diesen Menschen gehöre, die da beschrieben werden, nur um mich im nächsten Moment wieder peinlich genau erkannt zu fühlen, was mitunter sehr unangenehm sein kann, weil ich ja natürlich auch ganz besonders und einzigartig sein will. Was mir an der Genauigkeit dieser vielen Andeutungen und herausgepickten Momenten aber besonders gefällt, ist nicht nur ihr Humor, der das Bohren und die Selbstbezüge erträglich macht, sondern das ich beim Hören nie das Gefühl habe, dass sich hier über jemanden lustig gemacht wird. Es ist immer ein liebevoller, zuneigungsvoller Blickwinkel aus dem heraus gesprochen wird; mitunter selbstkritisch, aber der Autor gehört ja immer auch zu diesen Menschen, um die es geht. Die Problematisierung passiert dann im Kopf und speist sich aus den Zwischenräumen der Liste.

2. Umberto Ecos Liebeserklärung

„Die postmoderne Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht und Anerkennung, dass die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefasst werden muss: mit Ironie, ohne Unschuld. Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die eines Mannes, der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, dass er ihr nicht sagen kann: »Ich liebe dich inniglich«, weil er weiß, dass sie weiß (und dass sie weiß, dass er weiß), dass genau diese Worte schon, sagen wir, von Liala geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: »Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe dich inniglich.« In diesem Moment, nachdem er die falsche Unschuld vermieden hat, nachdem er klar zum Ausdruck gebracht hat, dass man nicht mehr unschuldig reden kann, hat er gleichwohl der Frau gesagt, was er ihr sagen wollte, nämlich dass er sie liebe, aber dass er sie in einer Zeit der verlorenen Unschuld liebe. Wenn sie das Spiel mitmacht, hat sie in gleicher Weise eine Liebeserklärung entgegengenommen. Keiner der beiden Gesprächspartner braucht sich naiv zu fühlen, beide akzeptieren die Herausforderung der Vergangenheit, des längst schon Gesagten, das man nicht einfach wegwischen kann, beide spielen bewusst und mit Vergnügen das Spiel der Ironie… Aber beiden ist es gelungen, noch einmal von Liebe zu reden.“5

Umberto Eco: Nachschrift zum Namen der Rose, 1984, S. 78f.

Ich glaube, mit diesem Abschnitt wurde ich zum ersten Mal von meinem Theaterprofessor in Bayreuth konfrontiert. Das Problem: Wie lässt sich im 21. Jahrhundert noch Shakespeare auf die Bühne bringen, ohne sich lächerlich zu machen? Also nicht als historisch informiertes Reenactment aus einem historischen Interesse, sondern mit dem Anspruch, dass der Text immer noch etwas zu erzählen hat und bewirken kann, wenn er gesprochen wird? Ein mehrere Jahrhunderte alter Text kann eben nicht (mehr) unschuldig auf einer Bühne gesprochen werden, sondern ist beim Versuch immer nur Zitat und dieses gilt es anzuerkennen. Über die Absicherung, dass ich im Publikum weiß, das die Schauspieler:innen wissen, dass ich weiß, dass diese Sprache und diese Welt aus einer anderen Zeit stammen und wir alle gemeinsam in einem Raum sitzen, der damit umgehen will, können wir uns eine auf die Aufführung begrenzte Situation schaffen, in der sich alle Beteiligten auf das Als-Ob einlassen, welches Hamlet dann doch zum Vorschein bringen kann. Der Trick ist, nicht an der Ironie oder Dekonstruktion haltzumachen, sondern sie zu Nutzen um durch sie hindurch zu einem Moment zu gelangen, in dem ein Lars Eidinger nie aufhört zu behaupten Lars Eidinger zu sein und sich trotzdem vor mir das tragische Schicksal einer mehrere hundert Jahre alten Figur vor mir aus Text und Körper entfaltet. Eco denkt noch an Ironie, wir an Postironie.

Im Seminar stieß die Passage natürlich zunächst auf Widerspruch. Soll das Unverstellte und Echte ohne solches nerviges Metaebenengehampel etwas nicht mehr zu erreichen sein? Es sei doch jeden Tag erlebbar! Und natürlich ist die Sache etwas komplizierter, aber die Sache mit der Liebe ist ein gutes Beispiel. Denn wie soll man sich denn ohne den Glauben an eine lebenslange Partnerschaft und an ein Jenseits noch angemessen große Liebesschwüre machen, wie es das Brennen im Moment der Leidenschaft verlangt, wenn mir auf YouTube die 10 romantischsten Heiratsanträge aller Zeiten vorgeschlagen werden und es allein auf lyrikline.org 13442 Gedichte gibt, die mit #Liebe getaggt sind? Eben aus dem Bewusstsein dieses Moments: Ich akzeptiere das Als-Ob, vielleicht im Bruchteil von Sekunden, unbewusst und mit gedachten Anführungszeichen, aber solange ich nicht daran hängen bleibe, sondern mich traue hindurchzugehen, kann ich auch in einer Zeit der verlorenen Unschuld im Schutz des gegenseitigen Vertrauens und mitgedachten Verstehens ganz unschuldige Dinge sagen und meinen.

„Aber wenn es auf das gleiche hinausläuft? Wenn es auch ohne funktioniert, wenn ich das alles leugne, ist es dann nicht egal?“, fragen da einige? Tja.

3. Das Geschenkpapier an der Klotür

Vor einigen Tagen habe ich auf dem Rückweg von der Therapie noch haltgemacht, um schönes Papier für das Geburtstagsgeschenk meines Vaters zu kaufen. Ihm bedeutet schönes Geschenkpapier nicht so viel wie mir, aber beim Schenken geht es ja auch um die Freude des Schenkenden, hatte ich mir eingeredet und ging in der Papeterie bei Dussmann die Bögen aus Schmuckpapier durch. An einem blieb ich immer wieder hängen. Das Papier war komplett mit Satzfragmenten bedruckt. Dinge wie „Meersalz auf der Haut spüren – Ordnung im Chaos – selbst gebackene Kekse – Cabrio fahren – die zweite Socke finden – Blumenwiesen, auf denen Schmetterlinge tanzen“ usw.

Es mag daran liegen, dass ich von der Therapie kam und noch ganz widerstandsweich und rührselig war, aber irgendwas sprach mich daran an, also ignorierte ich den Preis von sieben Euro für einen A3 Bogen Geschenkpapier und nahm es einfach mit, um später nochmal darüber nachzudenken. Zu Hause hängte ich es dann an der Klotür auf, wo vorher mal ein langes Interview mit Bruno Latour über Gaia gehangen hatte. Wie bei Bibelsprüchen an den Wänden in Bauernhäusern hatten sich auch da beim wiederholten Lesen immer wieder neue Bedeutungen und Interpretationen offenbart. Darauf hoffte ich hier auch. Seitdem hängt es dort und seitdem meide ich das Klo. Zum Glück haben wir zwei. Schon beim Aufhängen war es mir peinlich. Hatte ich mir da etwa ohne es zu merken eine Wandtattoosammlung an die Wand gehängt?

Das Interessante an dem Plakat ist, das es jetzt ein Plakat und kein Geschenkpapier mehr ist. Gleichzeitig bleibt es aber Gebrauchsgut. Es fehlt ein Titel, ein:e Autor:in, eine Kunstrahmung und jedwede zweite Bedeutungsebene, die mir einen Zugang durch den Zwischenraum der Liste öffnet. Das Plakat ist schön gestaltet, ordentlich gedruckt, die Farben und die Schriftgestaltung sind stimmig und für sich genommen sind viele der aufgezählten Glücksmomente wirklich auch genau das, aber etwas fehlt. Oder bin ich nur zynisch, verkopft, entrückt?

Auch hier scheint etwas durch. Das Drumherum ist direkter formuliert und trotzdem weiter weg von der Sache. Andererseits ist es ja auch „nur“ Geschenkpapier zum einmaligen Erkennungsschmunzeln gedacht, ein „Ja, so ist das“, aber ohne Ausrufezeichen und ohne große Überraschung. In einem anderen Design, mit einem anderen Papier und ohne das Preisschild hätte ich den Bogen als Kitsch abgestempelt, wohl nicht weiter beachtet und als Plakat an die Tür geheftet, wirft er mir das vor, hängt da aber immer noch. Irgendwas lässt mich noch nicht los.


  1. Michel Decar: Tausend deutsche Diskotheken, 2018.
  2. in Clemes J. Setz: Die Vogelstraußtrompete, 2014.
  3. Phillipp Lahm: Deutschlandfunk Kultur 2018.
  4. Rex Osterwald: Deutschlandfunk Kultur 2021.
  5. Umberto Eco: Nachschrift zum Namen der Rose, 1984, S. 78f.

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