Körper & Stimme (6/8)

ASMR Chilling Outside of a Party
(Muffled music, Soft Spoken/Whisper) 

Goodnight Moon, 13.03.20171

Close-up. Eine junge Frau spricht – flüstert direkt in die Kamera. Im dunklen Hintergrund erkennt man verschwommenes Blattgrün und es sind zirpende Grillen und gedämpfte Musik zu hören, die von weiter weg zu kommen scheint.

GOODNIGHT MOON
There you are. I’ve been looking everywhere for you. Yeah, I thought you left without me.
No I know you wouldn’t do that but you were nowhere to be found.
That’s okay. Don’t worry about it. So… I brought us drinks. Do you prefer Blackberry or Clementine?
Präsentiert zwei Getränkedosen
Clementine? Ok.
Why did I just shake it?
Lacht
I don’t know why I did that. I hope it doesn’t spray everywhere.
Should we wait a minute, should we just go for it?
I gotta live on the edge!
Öffnet eine Dose
Yeah. There you go.
And Mine.
Öffnet die zweite Dose
So what are you doing out here it’s freezing?
Aaah, I get that. Parties are fun, but they can definitely get very very overwhelming… yeah.
Have you been having fun though?
Good, I’m glad. Yeah… It’s nice to hang out outside of a party too. I like how the music sounds when it’s kind of muffled like that through the walls and you can kind of hear like the soft hum of people talking. It feels cool, it’s kind of surreal.
You’re not cold? Then why do your hands feel like ice cubes?

In dem Video ASMR Chilling Outside of a Party (Muffled music, Soft Spoken/Whisper) spricht die Amerikanerin Goodnight Moon (Erin Timony) direkt in die Kamera und verbündet sich mit mir, dem Zuschauer. Ich spiele in dieser Geschichte den Außenstehenden, zu dem sich die Schöne aus dem inneren Kreis der Party gesellt. Es ist die Erzählung von der emotionalen Tiefe und Aufrichtigkeit, die einer künstlichen Oberflächlichkeit gegenübersteht; hier draußen der ehrliche Moment der Nähe zwischenmenschlicher Wärme, da drinnen die eigentliche Distanz; hier Nische, da Mainstream; hier wir und dort die anderen. Sie hingegen scheint wie eine Engels- oder Marienfigur über diesen Grenzen zu schweben. Auch ihre Rolle ist ein popkulturelles Abziehbild aus einem Independent Film: die quirky Unschuldige mit heller Haut, roten Wangen und Kleidung, die in Kombination mit den dunkel geschminkten Augen an das Mädchenhafte einer Schuluniform erinnert.

ASMR

ASMR steht für Autonomous Sensory Meridian Response und beschreibt eine Reaktion, die oft wie Gänsehaut beschrieben wird, nur dass sie als entspannend statt anregend empfunden wird. Ausgelöst wird dieses Gefühl durch akustische, visuelle oder taktile Reize. Als komplexe und schwer zu messende Emotion wird das Phänomen auch mit Nostalgie verglichen.2 Ob und wie Sinnesreize einen solchen Effekt hervorrufen, scheint aber von Person zu Person unterschiedlich zu sein. Auf YouTube gibt es jedoch mehrere Millionen Videos, die sich selber der Kategorie ASMR zuordnen. Goodnight Moon verdient mit solchen Videos ihren Lebensunterhalt. Dafür baut sie Sets und schlüpft mit aufwendigen Kostümen und Schminke in Rollen, in denen sie vor allem ihre Stimme einsetzt. Dabei spricht sie sehr leise oder flüstert ins Mikrofon und blickt durchgängig in die Kamera.

ASMR Videos sind günstig zu produzieren, was zu ihrer Beliebtheit bei YouTuber:innen beigetragen haben mag. Notwendig ist nur ein Mikrofon, am besten ein binaurales, welches die Eigenschaften des Ohrs imitiert. Auf Kopfhörern soll so ein möglichst natürlicher, dreidimensionaler Höreindruck erzeugt werden. In einer Arbeitswelt, in der man sich an öffentlichen Orten mit dem Laptop von der Außenwelt abschottet, versprechen ASMR Videos so digitale Sinnlichkeit:

„Our new way of life, of being always-online, has unsurprisingly begun to develop its own balm to soothe its soul from the very same tools. Plugged into screens every waking hour, our brains locked into an eternal scroll, we are increasingly finding solace in strangers on the internet.“3

Obwohl es auch auf Spotify ASMR Alben gibt, findet das Phänomen (zumindest im deutsch und englischsprachigen Internet) vor allem auf YouTube statt. Es handelt sich also um kein rein akustisches Phänomen. Bei den Personen vor der Kamera handelt es sich außerdem überdurchschnittlich oft um „young white women, specializing in a loving, soft attention directed straight to the viewer“3. Sie erscheinen alle im Close-up, der Einstellung, die im Kino und Fernsehen noch besonderen und intimen Momente vorbehalten war und in der Webcam- und Smartphone-Videografie zur Grundeinstellung geworden ist. Es gibt keinen Establishing Shot, um die Szene zu verorten, sondern der Nahbereich wird direkt als Spielfläche eingeführt4. So streichen die jungen Frauen über Oberflächen, bringen Luftpolsterfolienblasen zum Platzen oder flüstern sanft ins Mikrofon. Die Videos sind nicht im klassischen Sinne sexuell, sondern eher sinnlich. Huw Lemmy beschreibt sie aber trotzdem als (emotionale) Sexarbeit:

„Online sex work, such as camming, where people perform for tips or private clients over a webcam, is often not limited to just sexual acts. Sex work is often about a wide range of emotional and intimate services, and there’s a crossover in those skills between ASMR artists performing intimacy services for viewers and sex workers who perform more explicit cam work. The line between the two can be blurry, with websites like YouTube hosting non-explicit but highly sexualised ASMR videos, while sites like PornHub offering ASMR videos featuring much non-explicit content.“3

Die konzentriere emotionale Intimität der ASMR Videos sorgt vielleicht auch dafür, das es zwar professionalisierte Amateure wie Goodnight Moon gibt, aber bisher keine großen Marken oder Produktionsentitäten in der Kategorie wirklich erfolgreich waren. Zuneigung muss glaubwürdig erscheinen um zu funktionieren.5 Diese liebevolle Aufmerksamkeit wird in diesem Video von Goodnight Moon (aber z. B. auch im Video ASMR Friend Comforts You After a Bad Day) explizit zum Teil der Geschichte gemacht.

Lautlichkeit, Räumlichkeit, Körperlichkeit

Stimmen verführen, das gilt für den Gesang der Sirenen wie für die Reden von Joseph Goebbels. In der Oper, Performancekunst, aber zu einem gewissen Grad auch bei ASMR Videos, lösen sich die Stimmen von ihrem Dienstverhältnis am Wort und lenken die Aufmerksamkeit auf ihre Lautlichkeit. Stimmlichkeit erzeugt dabei immer auch Körperlichkeit.6 „Die enge Beziehung zwischen Leib und Stimme zeigt sich vor allem im Schrei, im Schluchzen, Stöhnen, Seufzen und im Lachen.“7 Oder aber im Flüstern. Lautlichkeit erzeugt dabei auch immer zugleich Räumlichkeit und „der durch Lautlichkeit hervorgebrachte Hörraum vermag den Raum der Aufführung über den architektonisch-geometrischen Raum, in dem sie stattfindet, hinaus zum ihn umgebenden Raum zu entgrenzen.“6 Stimmen erzeugen also drei Arten von Materialität: Lautlichkeit, Räumlichkeit, und Körperlichkeit.7 Damit die Stimme von Goodnight Moon mich leiblich, wie von ihr vorgesehen, betrifft, auch ohne dass sie dafür neben mir sitzen muss, wird ihr technisch auf die Sprünge geholfen. Das binaurale Mikrofon und meine Kopfhörer simulieren akustisch den architektonisch-geometrischen Raum und je besser sie mich von der Außenwelt abschotten, desto besser kann ich mich auf den Klang ihrer Stimme in ihrer Raum- und Körperlichkeit erzeugenden Dimension einlassen. In der Materialität der Stimme liegt dabei ein wichtiger Teil ihres Informationsgehalts.

Pathische Kommunikation

Mit pathischer Kommunikation bezeichnet man die Spur des Körpers in der Sprache, quasi ihren Paratext. Wie bei einem Fingerabdruck klingt in der Stimme der Einfluss von Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildung, Lebensstil, aber auch besonderen Sprachmustern, Manierismen oder Gewohnheiten mit.8 Die Stimme ist mit der Körperlichkeit der Kommunizierenden verwoben, nicht unbedingt immer Macht und Kontrolle unterworfen und repräsentiert das Zusammenspiel einer ganzen Reihe von Organen.9 Die Prosodie, also die Gesamtheit der lautlichen Eigenschaften der Sprache, ist dabei deshalb nicht als Ausdruck einer körperlichen Verfassung zu verstehen, sondern als Teil dieser. Zur Intensität, Klangfarbe oder Rhythmus der Stimme gesellen sich als Teil des körperlichen Ausdrucks aber auch noch Mimik, Gestik und Körperhaltung. Colin Sample unterscheidet vor diesem Hintergrund zwischen zwei bedeutungssignifikanten Ebenen sprachlicher Äußerungen, einer semiotischen und einer mimetischen Ebene:10

„Die semiotische Ebene verknüpft er mit Arbitrarität, Diskursivität, Propositionalität und Konventionalität von Sprachen, die mimetische aber mit Expressivität, Analogizität und Bildlichkeit. Das Medium der mimetischen Kommunikation ist der Körper, und in dieser Perspektive enthüllt sich die Kommunikation immer auch als eine Form von körperlichem Wechselspiel.“9

Mittels der mimetischen Kommunikation können wir zum Beispiel auch mit Kleinkindern oder Tieren kommunizieren.11 Ich muss deshalb nicht die Sprache verstehen, um mich durch ein liebevolles Flüstern geborgen zu fühlen. Insbesondere nicht, wenn ich die Person dabei sehen und körperlich lesen kann. Unter der Annahme, dass ASMR Videos auch als emotionale Aufmerksamkeitsarbeit verstanden werden müssen, erklärt sich dann auch ihre Visualität, obwohl sich ASMR als Begriff auf ein primär akustisches Phänomen bezieht. Wer die Videos von Goodnight Moon anschaut, sucht nicht nur nach um einen wohligen Schauer, der den Nacken herunter tanzt, sondern auch nach dem Gefühl weniger allein zu sein und geliebt zu werden.12 Die Nahaufnahme, die weichen Farben und der Blickkontakt zur Kamera stützen dabei visuell die durch Mikrofon und Kopfhörer erlebte Nähe und Körperlichkeit. In diesem Falle ist nicht nur das Genre auf diesen Zweck hin ausgerichtet, sondern auch der Inhalt des Videos beschäftigt sich mit dem Thema Zuneigung, menschlicher Nähe und Aufmerksamkeit.  

Selbstsetzung und Verletzlichkeit

Die Stimme, die ich selbst erhebe, macht den Anderen zum Zeugen meiner Selbstsetzung. Ich nehme eine Position im Raum ein, als Körper oder als Rolle in einem YouTube Video. Wo uns eine Stimme erreicht, sind wir dabei gewesen, wir werden Ohrenzeugen. In diesem Fall Augen- und Ohrenzeugen. Im Internet kann jeder seine Stimme erheben, die Frage ist, ob jemand zuhört. Aber alleine dass ich es tue und Spuren in Datenbanken hinterlasse, ist ein Akt der Selbstsetzung – es könnte ja jemand zuhören. Und in diesem Fall tun sie es. Das Video ASMR Chilling Outside of a Party (Muffled music, Soft Spoken/Whisper) hat über 1,5 Millionen Aufrufe und wie bei mehreren ihrer Videos sind auch bei diesem die Kommentare ausgeschaltet. Wer sich auf YouTube verletzlich zeigt – insbesondere als Frau – ist mit verletzenden und objektifizierenden Äußerungen konfrontiert. Auch wenn diese Kommentare vielleicht oft in einem ähnlichen Als-ob Verhältnis stehen, wie Erin Timony zu ihrer Rolle als Goodnight Moon und zur anonymen Zuschauermasse, funktionieren sie doch genau so.

An ASMR Videos verdichten sich technische Möglichkeiten vermittelter Körperlichkeit, insbesondere als Lautlichkeit. Sie schließen in ihrer Funktion an die Gewohnheit vieler Menschen an, einen Fernseher oder Radio im Hintergrund laufen zu lassen, sind aber in der Produktion und Rezeption näher am Körper und gehen offener mit ihrer funktionalen Komponente um. Was ASMR Videos explizit machen lässt aber auch Rückschlüsse auf andere (klangliche) Phänomene zu, die unter ähnlichen Bedingungen produziert und erlebt werden. Die Podcaster:in, die ich regelmäßig höre, hat kein binaurales Mikrofon und blickt mich auch nicht verliebt an, aber spricht ähnlich persönlich und direkt in mein Ohr wie Goodnight Moon es tun würde. Gleiches gilt z. B. für Streamer:innen. Dass sie dabei über etwas ganz anderes reden und mein Bedürfnis nach menschlicher Nähe und stummer Gesellschaft nicht auch noch thematisieren, nehme ich auf der Suche nach Zerstreuung dankend an. ■


Acht Essays Über Internetgelaber | (Digitales) Heimeliges Sprechen

  1. youtube.com/watch?v=HG_In6RtdP4
  2. Giulia Lara Poerio/Emma Blakey/Thomas J. Hostler/Theresa Veltri (2018): „More than a feeling. Autonomous sensory meridian response (ASMR) is characterized by reliable changes in affect and physiology”, in: PLOS ONE, Jg. 13, Nr. 6, S. 14.
  3. Huw Lemmey (2020): „Experience tingles and techno-therapy”, in: TANK Magazine, Nr. 82.
  4. Michele White (2006): The Body and the Screen. Theories of Internet Spectatorship, S 84.
  5. Vgl. Huw Lemmey (2020): „Experience tingles and techno-therapy”, in: TANK Magazine, Nr. 82.
  6. Erika Fischer-Lichte (2012): Performativität. Eine Einführung, S. 62f.
  7. Erika Fischer-Lichte (2012): Performativität. Eine Einführung, S. 63.
  8. Vgl. Siobhán McHugh (2012): „The affective power of sound. Oral history on radio”, in: The Oral History Review, Jg. 39, Nr. 2, S. 188.
  9. Sybille Krämer (2006): „Die ›Rehabilitierung‹ der Stimme. Über die Oralität hinaus”, in Sybille Krämer, Doris Kolesch (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen, S. 275.
  10. Vgl. Sampl Colin (1996): „Living Worlds. Physiognomy and Aesthetic Language”, in Michael O’Donovan-Anderson (Hg.): Incorporated Self. Interdisciplinary Perspectives on Embodiment.
  11. Sybille Krämer (2006): „Die ›Rehabilitierung‹ der Stimme. Über die Oralität hinaus”, in Sybille Krämer, Doris Kolesch (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen, S. 276.
  12. Was in den Kommentaren unter anderen Videos auch genau so gelobt und wertgeschätzt wird.

Eine Antwort

  1. […] gesehen zu werden, sondern spricht auch das Verlangen an, der Beziehung eine gegenseitige virtuelle körperliche Bezogenheit zu geben, die sie für mich als Fan sowieso schon […]

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