Intimität & Authentizität (5/8)

Brave and competent women

The Europeans, 09.07.20191

Eine männlich und eine weiblich wahrgenommene Stimme mit lockerer Sprechdisziplin. Kaum Mund oder Atemgeräusche, keine Geräusche im Hintergrund. Sie sind nicht im selben Raum.

DOMINIC
Hello Katy, I am very relaxed.KATY
You sound like you are dying. I was about to ask you what was wrong.
Oh no, I’m just on holiday.
Oh, that’s your holiday voice.
That’s my holiday voice.
Remind me to never go on holiday with you.
Yeah, and why am I podcasting?
That’s a good question. That is dedication. Ehm, tell us where you are?
I’m in Gran Canaria with all the other British tourists, and German and Swedish and Norwegian I think. And actually we keep hearing a lot of dutch people as well. We were climbing a mountain yesterday that literally was exclusively full of dutch people and one of my friends here is a bit of a dutch celebrity so everyone was recognizing him, and he was like: „Oh god, can’t get away from it.“
Well I’m sorry for interrupting things and making you podcast, but it’s nice to record this somewhere more glamorous for a change. Are you like sitting under a palm tree right now?
I am literally crouched on my knees on the side of my bed, ‘cause it’s the best place acoustically. And I already lost the feeling in my legs…
Oooooh
The things I do for podcasting.
Yeay!
Are you having a break?
No, I’m eh in a very unglamorous situation just sitting here in my bedroom in Paris — as usual — surrounded by unfolded laundry that I have just taken out of the machine… So yeah, pretty glam. Not much to report on my end.
I watched a football match this week, which was really exciting. I decided very tentatively and very late in the game to get into the women’s world cup. And our mutual friend, Ingeborg, was in town from the Netherlands, so we decided to support the national team in a bar. And it was cool, I was very happy to support it on like feminist grounds, but it is still football, isn’t it? I realized that. So it was still quite boring.
Yeah. Football is football. It’s all about trying to get ball in the back of a net. Katy we really shouldn’t alinate a huge section of our audience who are — I’m sure — football supporters like most of the world.
So many people just switched off, we should move on.
Ehm, what is coming up this week?

Die beiden Moderator:innen schalten sich klanglich in meinen Kopfhörern zusammen, so als würden wir nach der Eingangsmusik im Raum der Datei zusammenkommen. Die beiden beschreiben zwar wo sie sich aufhalten und wie sie neben oder auf ihren Betten kauern, aber ich höre davon nichts. Sie könnten auch nebeneinander in einem Studio stehen und sich das alles ausdenken. Obwohl es mit Sicherheit ein Vorgespräch gab, begrüßen sie sich und obwohl Katy bestimmt weiß, wo Dominic im Urlaub ist, fragt sie nach: „Tell us where you are.“ Sie sprechen miteinander für ein Publikum, aber kein riesiges anonymes, sondern für eins, das mit in der Leitung ist. Und wie bei anderen Telefonaten auch gibt es, bevor es ernst wird, noch ein bisschen freundschaftlichen Smalltalk. Wo bist du und wie geht es dir. Sonst handelt es sich jedoch bei diesem Format klanglich eigentlich um ein typisches Radiomagazin mit vorbereiteten Themen und Interviews mit Gäst:innen, nur dass im klassischen Rundfunk weder die Aufnahme- noch die Raumanordnung so zum Thema gemacht werden würde und auch die mögliche Freundschaft der Moderator:innen stände wahrscheinlich nicht so sehr im Mittelpunkt wie hier – zu intim.

Calibrated Amateurism

Bereits in diesen ersten zwei Minuten wird also klar, dass sich dieses Gespräch bemüht, vergleichbare Inhalte anders zu präsentieren. Mit ihrer Betonung des Aufenthaltsortes und ihrer Gefühlszustände positionieren sie sich gegenüber der ernsten Konkurrenten. Dabei legen sie aber Wert darauf, dass ihr Bemühen, genauso professionell zu klingen, auch gehört wird. Dominic beschreibt, wie er für den sauberen Klang neben dem Bett kauert und ihm die Beine einschlafen und Katy erinnert daran, dass man besser nicht schlecht über Fußball reden sollte, um keine Zuhörer:innen zu vergraulen. Beide Aussagen werden mit einem augenzwinkernden Lachen zum Publikum getroffen und sind charakteristisch für das, was Crystal Abdin calibrated amateurism nennt:

„Calibrated amateurism is a practice and aesthetic in which actors in an attention economy labor specifically over crafting contrived authenticity that portrays the raw aesthetic of an amateur, whether or not they really are amateurs by status or practice, by relying on the performance ecology of appropriate platforms, affordances, tools, cultural vernacular, and social capital.“2

Abdin verwendet den Begriff um die Ästhetik von Familien-Influencer:innen auf Instagram zu beschreiben, also Personen, die ihr Familienleben ausstellen und teilweise erfolgreich vermarkten. Diese Influencer:innen stehen in der (kurzen, wenn auch einflussreichen) gestalterischen Tradition leidenschaftlicher, unabhängiger und unbezahlter Amateur:innen, die sich auf Social Media Plattformen darstellen. Allerdings müssen sie sich im Wettbewerb professionalisierter Persönlichkeitsmarken von dieser Alltagsästhetik auch abgrenzen, um herauszustechen.3 Wer aber nur noch aufwändig inszenierte Hochglanzbilder veröffentlicht, verliert die Nahbarkeit und den Schein von Intimität, die gerade für Familien-Influencer:innen besonders wichtig sind, wenn sie echte Einblicke in ihr harmonisches Familienleben in Szene setzen wollen. Deshalb achten diese Influencer:innen, darauf, regelmäßig Bilder und Videos zu veröffentlichen, die mit Erving Goffmann gesprochen eine Einladung in den Backstagebereich aussprechen und scheinbar private Momente zur öffentlichen Performance machen. Es muss sich echt anfühlen.

Authentizität

Dean MacCannel beschreibt die Sehnsucht nach Authentizität und Echtheit am Beispiel der Idee eines touristisch unberührten Hinterlandes:

„[…] tourists try to enter back regions of the places they visit because these regions are associated with intimacy of relations and authenticity of experiences […] tourist settings are arranged to produce the impression that a back region has been entered even when this is not the case […] between the front and the back there is a series of special spaces designed to accommodate tourists and to support their beliefs in the authenticity of their experiences.“4

„Just having a back region generates the belief that there is something more than meets the eye; even where no secrets are actually kept, back regions are still the places where it is popularly believed the secrets are […] An unexplored aspect of back regions is how their mere existence, and the possibility of their violation, functions to sustain the commonsense polarity of social life into what is taken to be intimate and ‘real’ and what is thought to be ‘show’.“5

Die ersten Minuten des Gesprächs zwischen Dominic und Katy sind dem Hinterland gewidmet. Nur die Andeutung des Lebens außerhalb der Aufnahmeanordnung reicht, um den Eindruck von Tiefe und Echtheit zu erzeugen. Dieses vom Alltäglichen gekennzeichnete Hinterland, trifft dann auf ein Repertoire von Praktiken und Charakteristiken, die im Sinne einer re-mediation aus dem Radio übernommen werden.6 Die beteuerte Mühe, die sich beide geben, um trotz der widrigen Bedingungen akustisch professionell zu klingen, ist eine in die Folge einladende Form wohldosierter ostentativer Amateurhaftigkeit.

Typische Mischformen der Tradition des öffentlichen Radios und einer solchen Kultivierung von Intimität und Direktheit sind Podcasts wie Radiolab oder Start Up. Alex Blumberg, einer der Macher:innen von Start Up spricht in dieser Hinsicht auch von einer kuratierten Authentizität.7 Kuratiert, weil das was sich im Endprodukt scheinbar spontan anhört, ein Produkt detaillierter Planung ist, und aus stundenlangen Aufnahmen zusammengeschnitten wird, bis es leicht, spontan und mühelos klingt.8

Jedoch: „Von Authentizität oder dem Authentischen zu sprechen geht im Grunde nicht anders, als sich verdächtig zu machen.”9 Es gibt keinen unvermittelten Austausch von Personen ohne Inszenierung, kein Sprechen ohne Konstruktion und Zitat, kein Geschlecht ohne Maske. In den Worten von Helmut Lethen: „Wenn keine klaren Schnittstellen zwischen Natur und sozialer Konstruktion bezeichnet werden können, scheint Authentizität bestenfalls ironisch als Kriterium zur Unterscheidung verschiedener Grade von Künstlichkeit verwandt zu werden.“10 Wenn auch nicht ironisch, gilt es den Authentizitätsbegriff unter dieser Prämisse zu verwenden. Formate wie The Europeans zeigen, dass es offensichtlich ein Bedürfnis nach „emotionaler Distanzlosigkeit und expressivem Mit-Seins“11 zu geben scheint. „Authentizität in posttraditionellen Gesellschaften funktioniert nur als Sehnsucht nach dem Authentischen, aber sie funktioniert als Sehnsucht und Inszenierung.“12

Helmut Lethen beschreibt Authentizität nicht als Zustand, sondern viel mehr als etwas, das einen überfällt, wie das Punctum bei Roland Barthes. An Authentizitätszeichen, die zum Beispiel ein Bild als (scheinbaren) Schnappschuss identifizieren lassen, verdichtet sich eine Gewissheit des Authentischen.13 Deshalb wird bei Formaten wie Start Up so viel Mühe darauf verwendet, nach akustischen Momenten des Zögerns oder Reaktionen zu suchen, die in das Erzähltempo passen und die trotzdem überrascht oder zufällig klingen. Ein Schnappschuss lässt sich eben auch inszenieren. Vor diesem Hintergrund unterscheidet Thomas Düllo zwischen Authentizität erster und zweiter Ordnung. Authentizität erster Ordnung leugnet die eigene Inszeniertheit und Künstlichkeit, Authentizität zweiter Ordnung weiß um die künstliche Erzeugung seines Authentizitätseindrucks und inszeniert eine glaubhafte Als-Ob-Authentizität. Diese Unterscheidung meint nicht, dass das authentische erster Ordnung reiner oder unverfälschter und das authentische zweiter Ordnung künstlicher oder konstruierter wäre. Die Differenz liegt vielmehr darin, ob die kulturellen Produkte eben diese Inszeniertheit und Künstlichkeit kenntlichen machen oder sie ignorieren oder leugnen.14

Ein Extrembeispiel des Nebeneinanders beider Ordnungen sind die bereits erwähnten Influencer:innen, die sich selber zu ihrem Job gemacht haben. Auch wenn sie bei ihren Fotoshootings Alltagsszenen zitieren und die Bilder als Dokumentation ihres Lebens betiteln, sind diese Bilder als arrangierte Als-Ob-Authentizitäten erkennbar. Im Gegensatz dazu leugnet das angeblich direkt nach dem Aufwachen aufgenommene Video für die Fans mit frisierter Anti-Frisur seine Künstlichkeit und insistiert auf den unmittelbaren Zugang zur Person, zum so berührbaren Hinterland.

Intimate Soundwork

So wie das Selfie eine visuelle soziokulturelle Praxis zur Selbstdarstellung in Social Media ist, könnte man beim Intro dieser Folge von The Europeans auch von einer akustischen Generierung und Sicherung von Identität sprechen – von intimer Klangarbeit (intimate soundwork15). Intim nicht nur als Beschreibung des Klangs durch die Armeslänge Abstand, wie beim Selfie, sondern ebenfalls auch als Beziehung zum Klangobjekt als Ausdruck und Erweiterung des Ichs:

„Intimate soundwork draws attention to the kinship undergirding the labor networks of amateur and independent production, the relationship of the self to work, and the requirement of the self for work. […] The work of producing the self is paired with creative independent production and the entrepreneurial expectations of new media economies.“16       

In dem hier beschriebenen kompetitiven und neoliberalisierten Raum der new media economies, werden diejenigen Akteure:innen mit Aufmerksamkeit belohnt, die bereit sind eine Version ihres intimen Selbst zur Schau zu stellen. Und nur mit genügend Aufmerksamkeit sind Persönlichkeitsmarken profitabel. Wenn die Arbeit und ihre Präsentation als elementarer Teil der Identität verstanden werden, und diese Identität vermarktet wird, dann muss auch die Arbeit an dieser Marke / der Identität / dem Selbst so präsentiert werden, dass sie im Aufmerksamkeitswettbewerb bestehen kann. Bei den Instagram Influencer:innen bedeutet das z. B. die Dokumentation und Inszenierung des Alltags mit der paradoxen Aufgabe, ihn gleichzeitig weniger alltäglich aussehen zu lassen, um herauszustechen und etwas zu erzählen zu haben. Typische Beispiele hierfür sind das aufwendig gestaltete Frühstück oder Yoga bei Sonnenuntergang am Sandstrand in der Karibik. Für Dominic und Katy reicht es schon, das Leben zwischen ihren Aufnahmen und die Alltäglichkeit ihrer Aufnahmesituation zu thematisieren, um echter zu wirken als die Moderator:innen des Europa-Magazins im öffentlich rechtlichen Rundfunk.

Intimität, also enge emotionale Vertrautheit, wird in diesen Kontexten aber vielleicht nicht nur hoch gehandelt, weil sich mit Vertrauen (und Produktplatzierungen) Geld verdienen lässt, sondern auch, weil wir einen großen Vertrauensvorschuss leisten, wenn wir wie beim Podcast jemanden so nah in unser Ohr heranlassen:

„In a podcast, the moment we lose faith in our guide, it becomes increasingly excruciating to keep listening – intimacy curdles into invasiveness.“17

Die beschworene Authentizität bezieht sich dann also vielleicht vor allem auf eine Art Sicherheitsbedürfnis in diesem emotionalen Nahbereich. Wenn Welt und Ich nur noch Als-Ob-Authentizitäten besteht, sickert die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit ins Innere. Wenigstens das Erleben, der Affekt ist doch noch echt – oder?  ■


Acht Essays Über Internetgelaber | (Digitales) Heimeliges Sprechen

  1. europeanspodcast.com/episodes/brave-and-competent-women
  2. Crystal Abidin (2017): „#familygoals: Family Influencers, Calibrated Amateurism, and Justifying Young Digital Labor”, in: Social Media + Society, Jg. 3, Nr. 2. S. 1.
  3. Vgl. Erin Brooke Duffy/Emily Hund (2015): „‘Having it All’ on Social Media: Entrepreneurial Femininity and Self-Branding Among Fashion Bloggers”, in: Social Media + Society, Jg. 1, Nr. 2.
  4. Dean MacCannell (1973): „Staged Authenticity: Arrangements of Social Space in Tourist Settings”, in: American Journal of Sociology, Jg. 79, Nr. 3, S. 589.
  5. Dean MacCannell (1973): „Staged Authenticity: Arrangements of Social Space in Tourist Settings”, in: American Journal of Sociology, Jg. 79, Nr. 3, S. 591.
  6. Nele Heise (2014): „On the shoulders of giants? How audio podcasters adopt, transform and re-invent radio storytelling”, in: Transnational Radio Stories, MOOC des Masterstudiengangs Onlineradio an der MLU Halle-Wittenberg, S. 3f.
  7. Christopher Cwaynar (2019): „Self-Service Media. Public radio personalities, reality podcasting, and entrepreneurial culture”, in: Popular Communication. The International Journal of Media and Cultures, Jg. 17, Nr. 4, S. 8.
  8. Vgl. Christopher Cwaynar (2019): „Self-Service Media. Public radio personalities, reality podcasting, and entrepreneurial culture”, in: Popular Communication. The International Journal of Media and Cultures, Jg. 17, Nr. 4, S. 8.
  9. Thomas Düllo (2011): Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover, S. 442.
  10. Helmut Lethen (1996): „Versionen des Authentischen. Sechs Gemeinplätze”, in Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, S. 208f.
  11. Thomas Düllo (2011): Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover, S. 447.
  12. Thomas Düllo (2011): Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover, S. 458f.
  13. Thomas Düllo (2011): Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover, S. 455.
  14. Thomas Düllo (2011): Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover, S. 459.
  15. Sarah Murray (2019): „Coming-of-age in a coming-of-age”, in: Popular Communication. The International Journal of Media and Cultures, Jg. 17, Nr. 4, S. 2.
  16. MurrSarah Murray (2019): „Coming-of-age in a coming-of-age”, in: Popular Communication. The International Journal of Media and Cultures, Jg. 17, Nr. 4, S. 2.
  17. Jonah Weiner: What makes podcasts so addictive and pleasurable (14.12.2014).

Eine Antwort

  1. […] Nähe, Heimeligkeit die hier verkauft wird, ist jedoch sexualisiert. Reichweite gibt es für die Präsentation der Version eines intimen Selbst und wo es darum geht sich übertragene Sinne nackig zu machen, ist sich tatsächlich nackig zu […]

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