How Digital Media Distorts our Sense of Time (07.07.2020)
Als PoC in den USA wurde in Aaron Z. Lewis Familie genau überlegt was über die Vergangenheit erzählt wurde und was nicht: „Artful forgetting for the sake of affirming the family’s self worth“. Erzählen bedeutet immer auch zu entscheiden, was weggelassen und vergessen wird.
Unter Internetbedingungen sind solche ausgesuchten Erzählungen der Herkunft und Identität unmöglich. In der Datenbank sind Bedeutungen und Zusammenhänge nie fix, sondern stehen als Möglichkeiten nebeneinander. Und auch das Vergessen fällt schwer, denn das Internet ist ein digitaler Friedhof. Die Informationen aus der Vergangenheit kommen immer wieder zu mir zurück und werfen mich aus der Zeit. Ich erlebe keine verarbeitete Erinnerung, keine geteilte Geschichte, sondern untote Ausschnitte der Vergangenheit.
Auf der Suche nach dem geteilten Zeitstrahl
Gleichzeitigkeit wird dabei paradoxerweise zur gesellschaftlichen Herausforderung, obwohl Informationen in Echtzeit übertragen werden. Das 19. und 20. Jahrhundert war noch von Synchronisation geprägt. Von Schichtarbeit, Telegrafie, Radio und Fernsehen. Das Datum in der Kopfzeile einer Zeitung ist deshalb so wichtig, weil es die Verbindung zwischen scheinbar unzusammenhängenden Ereignissen herstellt und mit dem Rhythmus ihres Erscheinens eine homogene Zeit erzeugt.1 Die gemeinsame, geteilte Zeit wurde schließlich wie Wasser in die Haushalte gepumpt.2
Ohne das alte (massenmediale) Zeitregime suchen Menschen nach Gruppen und Ideologien, die eine geteilte Zeitlichkeit mitbringen. Internetcommunities haben ihre eigenen Zeitzonen und ihr eigenes Jetzt. Die alten Massenmedien sind dieser Zeitlichkeit dabei immer hinterher. Weil Kultur und Internetkultur aber zunehmend synonym werden, führen diese unterschiedlichen Zeitlichkeiten immer häufiger zu Konflikten: Wer kontrolliert die Zeit, den Rhythmus und die Erzählungen der Vergangenheit?
Geschichte als Wettbewerbsvorteil
Während sich im Fernsehen immer nur wenige Stunden oder Tage mit einem Thema beschäftigt wird, haben Internet-Subkulturen die Zeit und Ressourcen große Bedeutungsgefüge (Meme-Welten) zu bauen. Sie ermöglichen Sinnstiftung als Teil einer großen Erzählung: „[They] help people feel their way thorugh the chaos“.
Dabei versuchen sie möglichst viel Vergangenheit in ihr Narrativ zu integrieren.
„We shouldn’t be too surprised that complex conspiracy theories, intergenerational trauma, and age-old religious fervor are coming to the fore — in a contest of narrative memes, deep history is a serious competitive advantage.“
Aaron Z. Lewis: The garden of forking memes: how digital media distorts our sense of time (07.07.2020)
Erzählungen, die nicht für sich stehen, sondern in andere Erzählungen eingebettet sind, die immer größere Bögen spannen und Zeiträume einschließen sind mächtiger. Bestes Beispiel: Yoga.
Es existieren in der Datenbank also nicht nur mehrere Zeitzonen neben- und übereinander, es gibt so auch nicht mehr eine dominante Geschichtserzählung, auf die sich subkulturübergreifend bezogen werden kann. Gesellschaftlich ist das zum Beispiel für marginalisierte Gruppen ein postkolonialer Befreiungsakt, es verändert aber auch die Feedbackschleife zwischen Erinnerung und Vorstellungskraft.
Keine Zukunft ohne Vergangenheit
Lewis These: Wenn sich die Zukunft auszumalen, nichts anderes ist, als ein nostalgischer Blick auf das noch nicht eingetretene, dann liefert das Erinnern den narrativen Schwung für diese Gedankenbewegung aus dem Jetzt heraus. Aber wenn aus der Vergangenheit keine Geschichte wird, weil sie untot die Gegenwart belagert und wenn jede Erzählung durch die konkurrierenden Möglichkeiten der Datenbank infrage gestellt wird, dann verlieren wir auch die Fähigkeit, gemeinsam gestaltend aus dem Jetzt heraus zu denken.
Überfordert von den Informationen und dem zeitlichen neben- und übereinander wenden wir uns an Algorithmen3, die uns helfen sollen dieses Chaos zu sortieren und beherrschen. Es sind die unsichtbaren und magischen Kräfte, welche die Ordnung wieder herstellen sollen und die besänftigt und beschworen werden müssen.4
Selber machen
Das klingt wieder alles sehr pessimistisch. Toby Shorin erinnert in seiner Antwort auf den Text aber daran, dass es trotz aller scheinbaren Utopielosigkeit heute einfacher ist als je zuvor, lokale Zukünfte, jenseits großer Narrative zu realisieren. #ThinkGlobalActLocal
„We are living in a liminal time, a time with high tolerance (outside the mainstream) for new ideas and experiments with new ways of living. We have higher leverage than we think.“
Toby Shorin: re: garden of forking memes
Dafür muss an sich nur eine Idee aussuchen und Wirklichkeit werden lassen.
- Benedict Anderson (1991): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism [Erstausgabe 1983], S. 33
- Programmable Reality – Venkatesh Rao (YouTube)
- Also die Technik, oder je nachdem auch den Staat oder den Markt.
- Lässt sich als Effekt davon eine Art spiritueller Internetpraxis beobachten? Ich noch nach einer passenden Überschrift für meinen Zettelkasten, um die Spuren zu sammeln.
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